Vergangenes Wochenende am 22. Februar 2020 erhielt ich Post von einer, und das ist sicherlich nicht übertrieben, verdienten Altenburger Persönlichkeit. Es war ein Briefkuvert mit dem Büchlein „Über Nationalismus“ von George Orwell, erstmals erschienen im Mai 1945. Die mir zugestellte Ausgabe der Auflage aus dem Jahr 2020 enthält zudem ein Nachwort des Soziologen Armin Nassehi*. Eine beiliegende handschriftliche Notiz enthielt neben freundlichen Grüßen noch den Hinweis „Aufregend wahr und aktuell“. Die 58 Buchseiten waren dann auch zügig gelesen, verstanden und ebenso durch mich bewertet. Beeindruckend ist, dass Orwell ganz unmittelbar am Kriegsende mit erstaunlicher Weisheit verschiedene Entwicklungen recht treffsicher prognostizieren konnte. Zudem verweist er sehr oft auf Dritte und dabei im hohen Maß auf weitere publizierende Autoren, welche er rigoros in Schubladen (politische Einstellung sowie abgestufte Zuordnung zur Intelligenz) einordnet und deren Arbeiten er auf Wahrheit bzw. Unwahrheit bewertet. Es entsteht der Eindruck, dass Orwell sich in einer objektiven, überlegenen Position wähnt, von welcher er glaubt ein absolutes Urteil abgeben zu müssen. Und wenn er durchweg den Nationalismus als Übel kennzeichnet, so verweist er als positives Gegenbeispiel auf den Patriotismus. Doch bleibt sein Essay „Über Nationalismus“ eben allein das, eine (tatsächlich sehr einseitige, moralisierende) Definition des Nationalismus als Übel. Den Patriotismus hingegen benennt er als Wort, ohne nur ansatzweise eine Orwell’sche Definition mitzuliefern, welche seinem getroffenen Vergleich vielleicht etwas Legitimation verschaffen könnte. Deswegen soll trotzdem nicht vergessen werden, dass Orwell selbstverständlich auch durch seine Lebenserfahrungen und seine Zeit stark geprägt war; so wie auch wir alle heutzutage vom Hier und Jetzt geprägt sind.
Persönlich bin ich geneigt Orwell zuzustimmen, dass der „Nationalismus“ eine Begrifflichkeit ist, welche über den namensgebenden Rahmen der Nation hinaus anwendbar ist. Und aufgrund einer solchen begrifflichen Breite, ist Nationalismus eben nicht grundschlecht und unvereinbar mit grenzübergreifend guter Nachbarschaft. Denn legt man die Orwell’sche Deutung des Begriffs „Nationalismus“ dann auch über alle Ebenen unserer Gesellschaft (was Orwell selbst leider nicht tut), dann ist es nichts anderes als eine schützende Abgrenzung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Es ist Teil einer föderalen Struktur, in welcher keine obere Hierarchie unkontrolliert und voll vereinnahmend in untere Hierarchien hineinwirken kann. Folge ich als meiner Auslegung von Orwells Definition des Nationalismus, dann ist die mir wichtigste Nation meine Familie. Ist meine Familie in ihrem Bestand geschützt und kann sich positiv entwickeln, dann bilden Freunde und Bekannte meine erweiterte Nation, deren Wohlergehen mir vorrangig am Herzen liegt. Und so erweitert sich der Nationenbegriff von innen nach außen fort, von der Kommune über den Freistaat über die Republik über die EU/ Europa bis zur Weltgemeinschaft. Bleibt man also bei solcher Deutung der Begrifflichkeit „Nationalismus“, dann bin ich auch ein überzeugter Nationalist. Dann ist es nämlich kein Widerspruch einerseits bekennender Nationalist und andererseits überzeugter Europäer zu sein, bzw. sich als Weltbürger in die fortschreitende Globalisierung zu fügen. Erkennt man jedoch einen Bruch oder schwer beeinträchtigende Störungen, wie sie zweifelsohne auf den Ebenen von Freistaat, Bund und EU existieren, dann muss ein schützender Nationalismus (Korrektur/ Protektorat des Richtigen) zum Zuge kommen. Wird beispielsweise die demokratisch-legitime Wahl eines Thüringer Ministerpräsidenten ad absurdum geführt, dann bedarf es eines anständigen Nationalismus auf Ebene des Freistaates, um sich derartigem (angekündigten/ beabsichtigten) Rechtsbruch entgegenzustemmen. Wird staatliche Souveränität ohne Zustimmung des Staatsvolkes an EU Kommissionen, EU Parlament und die EZB transferiert, dann bedarf es eines schützenden deutschen Nationalismus. Wird Europa zum bevorzugten Anlaufpunkt weiter Teile der Weltbevölkerung, um ohne Integrationsbemühungen lediglich von sozialen Leistungen zu partizipieren und anti-westliche, gesellschaftliche Parallelstrukturen aufzubauen, dann bedarf es eines europäischen Nationalismus. Wird unsere Erde immer weiter zum imperialistischen Spielball von Geld, Produktion und Handel weniger Ökonomieriesen, dann ist dringend ein globaler Nationalismus gefragt. Nationalismus in diesem Kontext ist per se nichts Übles und kann gemäß meiner Interpretation von Orwell durch Begrifflichkeiten wie Protektionismus, Fürsorge und Gemeingeist ausgetauscht werden. Es ist allein ein Schutzmechanismus gegen ungute äußere Einflüsse, welcher natürlich im Guten wie im Negativen gebraucht bzw. missbraucht werden kann. Die positiven Seiten von Nationalismus wirken zu lassen, bedarf es einer stets kritischen Kontrolle und eines gesunden Maßes. Andernfalls läuft man durchaus Gefahr, durch übersteigerten Nationalismus in einer zwar konkurrierenden, aber doch regelbasiert „friedlich“ miteinander umgehenden Staatengemeinschaft wieder kriegerische Zwietracht zu säen.
Uwe Rückert (Stand: 25. Februar 2020)
* Zeit Online; Ausgabe vom 13. Juli 2017; Armin Nassehi; Artikel nachfolgend dem G20 Gipfel in Hamburg „Eine Linke braucht es nicht mehr“; Auszug: …Der Schwarze Block ist keineswegs der illegale Arm des legalen Protestes von Globalisierungsgegnern, aber es besteht durchaus ein innerer Zusammenhang zwischen beiden. Wenn viele Linke derzeit betonen, die Gewalttäter seien keine Linken, sondern nur Kriminelle, kopiert sich hier ein Muster, das wir auch aus anderen Feldern kennen. Wie der islamistische Terror nichts mit dem Islam zu tun haben soll (was zugleich stimmt und nicht stimmt) und rechtsradikale Anschläge auf Asylbewerberheime nichts mit einem in vielen Milieus der Gesellschaft verbreiteten latenten Rassismus (was zugleich stimmt und nicht stimmt), wird auch hier den Gewalttätern letztlich abgesprochen, etwas mit der Sache selbst zu tun zu haben. …